Freitag, 9. Mai 2014

Im Himmel und der Hölle von Wien

„Du fährst nach Wien? - Ach, wie schön. Du musst unbedingt in das Lokal xy gehen“, so der einhelliger Ton aller Bekannten und Kollegen, wobei xy bei jedem für ein anderes Lokal stечт. „Grüße schön Wien von mir“, säuselt Kollegin Marianne durch den Telefonhörer. Vor vier Jahren war ich drei Tage in Wien, aber während der jetzigen fünf Tagen gab es kaum ein Programmpunkt, den ich wiederholt habe. Wien ist zu vielfältig, als dass man der Gefahr läuft etwas zweimal machen zu müssen.

Tag 1: Wir kommen spät abends an und fahren gleich in die JuHe. Komplett neugebaut, mit kahlen, aber sehr durchdachten Zimmern, die Betten sind auf Rollen, kann man zusammen-, oder auseinanderschieben, das Fenster auf die laute, aber kaum hörbare Strasse hin, kann man nicht aufmachen, die Luft ist aber immer gut, ist alles auf Energiesparen optimiert. Die Adresse ist Adalbert-Stifter-Strasse 73, zum Preis von 50 EUR / Nacht für ein Doppelbettzimmer mit ausreichendem Frühstück, kann man eigentlich nichts falsch machen.

Tag 2: Wir fahren zum Schloss Schönbrunn, die Sommerresidenz von Kaiserin Maria Theresia und allen nachfolgenden Monarchen, bis zu Franz-Josef I und seiner Frau Elisabeth, besser bekannt als Sisi, der ersten Celebrity überhaupt. Ihrer Schönheit wohlbewusst, versuchte sie sie so lange wie möglich zu erhalten, hielt strenge Diäten, trieb jede Menge Sport, reiste zum Vergnügen in der Gegend, während ihr Workaholik-Mann zu Hause für das Wohl des Landes schuftete, liess sich irgendwann nicht mehr fotografieren und starb durch ein Attentat am Genfer See. Also eine sehr moderne Frau (bis auf das Attentat natürlich). Und wie es für einen Celebrity gehört, wurde und wird bis heute ihr Leben hemmungslos ausgeschlachtet, wäre interessant zu wissen, ob jemand noch die Tantiemen einstreicht. Ihr Leben wird verfilmt, auch als Zeichentrickfilm, es gibt ein Sisy-Museum, ein Sisy-Musical, unzählige Abbildungen auf unzähligen Merchandising-Artikeln. Als Identifikationsfigur für kleine Mädchen mit einem Hang zu Pferden und Anorexie ist sie ideal.

Das Schloss selbst ist durchaus prachtvoll, kann sich mit Schlössern in St. Petersburg oder Versailles aber kaum messen, vielleicht nur was die Anzahl der Besucher angeht. Doch was sehr schön ist, das ist der Park.

Die Bäume sind nach barocken Art in geometrischen Formen beschnitten, man geht eine grüne Wand entlang zu sehr schönen und riesigen Skulpturen von Neptun, zu einer Gloriette auf dem Hügel von wo man einen weiten Blick auf Wien hat, zu den Labyrinthen, es gibt auch einen Zoo im Schönbrunn. Man kann locker den ganzen Tag dort verbringen.

Abends gehen wir in die Kammeroper, natürlich zu einer Mozart-Oper. Diesmal allerdings keine sonderlich bekannte, sie heisst La clemenza di Tito, die Großmut des Titos. Das besondere an der Kammeroper ist, dass es junge Opernsänger sind, die richtig Lust am Spielen und Singen haben und es schwebte eine Magie in der Luft, die mich komplett überzeugte. Vielleicht liegt es an der Wiener Luft, aber ich war selten so begeistert von einer Opern-Aufführung, wie von dieser. Absolut und unbedingt zu empfehlen, vorher sich entsprechend kleiden, die Wiener legen erheblich mehr Wert auf Ausgehkleidung als die flapsigen Berliner. Abgerundet wird der Abend im Griechenbeisl, dem ältesten Beisl in Wien, wo angeblich der Bänkelsänger Augustin ein Lied verfasste, das zur inoffiziellen Hymne Österreichs nach dem 1. Weltkrieg wurde: Ach Du lieber Augustin, alles ist hin.

Tag 2: Heute ist der 1. Mai, also fahren wir in die Stadt und gehen zum Rathaus. Dort ist die Wahlkampfdemo der SPÖ, mit dabei der Bürgermeister der Stadt Wien, der österreichische Bundeskanzler, alle Frauen tragen rot, es werden rote Luftballons und Fahnen geschwenkt, auf manchen ist noch Hammer und Sichel drauf.

Es wird „Die Internationale“ gesungen, also ein Lied das man in Deutschland auch nicht alle Tage hört. Es wäre interessant junge europäische Sozialdemokraten zu testen, wer zumindest die erste Strophe noch kann. Ich wette osteuropäische Sozis werden da kläglich durchfallen. Zur Erinnerung:

Eigentlich ist die Assoziation mit Wien immer als mit einer konservativen Stadt, doch wenn man bedenkt, dass Anfang des 20. Jahrhunderts nach Wien genauso die Arbeiter aus allen Teilen der k.u.k Monarchie strömten wie ins preussische Berlin, dann ist es kein Wunder, dass die Arbeiterbewegung eine lange Tradition auch im bürgerlichen Wien hat. Und von Traditionenerhalten, davon verstehen die Wiener einiges.

Wien ist eine unglaublich internationale Stadt. Man hört ganz Ost-Europa in unterschiedlichen slawischen Sprachen sich unterhalten, die einzige Sprache, die man nicht zuordnen kann, muss Ungarisch sein. Natürlich sind viele Touristen da, aber auch viele Zugereiste, Wien ist nach wie vor ein Magnet für die ehemaligen k.u.k Länder.


Da singt einer was vom Pferd

Natürlich spielt es auch eine Rolle, dass die UNO neben New York und Genf ihren Sitz im neutralen Österreich bzw. Wien hat. Und die allgegenwärtigen Russen haben wohl heftig in die besten Wohnlagen im 1. Bezirk investiert, wenn man dem Wiener Schmäh Glauben schenken darf.


Krim ist auch in Wien

Weg von den Sozis, rein in das Wien von Franz-Josef, das sich am Westring befindet. Maria-Theresia trönt auf einem riesigen Podest, links und rechts Prachtgebäude. Wir gehen zu der Karlskirche. Die Votivkirche für den Pestheiligen Karl Borromäus wurde erbaut, um die Pest von der Stadt abzuwenden, was auch geklappt hat, nach dem Bau der Kirche gab es keine Pestepidemie in Wien mehr.

Die barocke Kirche wird gerade restauriert, das Gerüst reicht zu der Decke und ein Fahrstuhl fährt ca. 30 Meter hoch. Die ganz Mutigen können noch eine Treppe hochsteigen und sind dann beim Heiligen Geist angekommen. Muss ein ganz energetischer Ort sein, denn genau dort konzentriert sich die Energie aller Gebete, bevor sie den Himmel hinauf strömt. Die Wände beim Heiligen Geist sind mit Graffiti beschmiert, denn wenn das Gerüst abgebaut ist, dann kommt niemand mehr so einfach nach oben, um es zu entfernen.

Abends gehen wir noch ins Leopold-Museum, um die Bilder von Egon Schiele, Gustav Klimt, Richard Gerstl, Oskar Kokoschka und anderen Künstlern von Fin de Siecle anzuschauen. Auf diese Protagonisten komme ich noch später zu sprechen.


Kalte Dusche direkt auf der Strasse

Tag 3: Die Altstadt. Wien war als die Hauptstadt des größten europäischen Imperiums geplant, aber die Geschichte wollte es anders, deswegen ist Wien die Hauptstadt vom kleinen Österreich. Trotzdem tut Österreich sein bestes, um die Wiener Architektur zu erhalten, die Touristen helfen fleissig mit.

Es ist eine Art Perpetuum Mobile, die Touristen kommen wegen der Architektur und lassen Geld da. Das Geld wird in die Erhaltung der Architektur investiert, die Touristen kommen wieder. Wir als ordentliche kulturinteressierte Touristen besuchen die Kirchen der dominikanischen, franziskanischen, jesuitischen Orden. Die Kirche vom Zisterzienserorden ist geschlossen. Die Synagoge ist nur als Mahnmal erhalten. Dann gehen wir zu der Ruprechts-Kirche, die älteste Kirche von Wien, und natürlich ins Stephansdom.


Ruprechts-Kirche, die älteste Kirche Wiens


Das, was von der Synagoge übrig blieb


Nein, das ist keine Kirche, sondern ein Feuerwehrgebäude

Um meine morbide Gefühle zu befriedigen, steigen wir in die Gruft der Habsburger, die sich unter der Kirche der Kapuziner befindet. Dort befinden sich 151 Särge, manche nur schlicht, in andere, wie von Maria Theresia passt ein Kleinwagen gut rein. Auch die Särge von Franz-Josef, Sisi und ihrem Sohn Rudolph, der Selbstmord beging, stehen dort. Entgegen meiner Befürchtungen gab es keine Teddybären am Sisis Sarg, aber ein Kranz mit ungarischen Bändern und Blumen. Am Sarg von Karl I und Zita, dem letzten Kaiserehepaar, liegt ein Kranz von den tschechischen Fans der Monarchie. Der Tod, der ist ein Wiener, pflegt man hier zu sagen.

Pause wird in Cafe Central gemacht, einem der Plätze wo die Kaffeehausliteraten tagelang sich die Zeit vertrieben. Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Leo Trotzky waren Stammgäste, der Poet Peter Altenberg verlegte seine Postadresse in Cafe Central. Diese Zeiten sind lange vorbei. Cafe Central ist zum Äquivalent des Münchener Hofbräuhauses geworden, die Umgebung ist da, die Kellner tragen Anzüge mit Fliegen, es gibt alle berühmten Wiener Mehlspeisen und Kaffeesorten. Doch das Publikum hat sich gewandelt. Niemand bleibt länger als für eine Stunde sitzen, es muss noch so viel angeschaut werden! Niemand philosophiert mit dem Nachbarn rum, schon eine gemeinsame Sprache zu finden ist nicht einfach. Und kaum jemand zieht sich so an, wie Peter Altenberg, der immer noch an seinem Stammtisch sitzt, Turnschuhe und kurze Hosen rulen.

Abends gehen wir dann in die Volksoper, um dort Ballett „Ein Reigen“ zu sehen. Die gebildeteren Leser werden sofort wissen, um was es geht, um ein Roman von Arthur Schnitzler in dem die Pärchen ständig wechseln.

Doch warum soll man ausgedachte Personen nehmen, wenn das Leben selbst die schönsten Geschichten schreibt? Man nehme die realexistierende Personen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des anfangenden 20. und erzähle ihre echten Geschichten, da ist schon ein Reigen fertig. Da wäre der Maler Richard Gerstl, der sich in die Frau des Kompositors Arnold Schönberg Mathilde verliebt und sie sich in ihn. Doch um bürgerlichen Anstand zu wahren, entscheidet sie sich am Ende für ihren Mann und der Maler wählt den Freitod. Oder die Alma, die zuerst mit dem Maler Gustav Klimt schäkert, danach mit dem Komponisten Alexander von Zemlinsky eine Affäre hat, den älteren Komponisten Gustav Mahler heiratet, nach dessen Tod mit dem Maler Oskar Kokoschka eine Liaison hat und den Architekten Walter Gropius heiratet. Nach der Scheidung von Gropius wird sie Ehefrau von dem Schriftsteller Franz Werfel. Dann gibt es noch den sensiblen Maler Egon Schiele, der seine langjährige Freundin Edith heiratete, obwohl er viel lieber eine Dreiecksbeziehung mit seinem Model und Muse Wally Neuzil eingegangen wäre. Wally starb 1917, 24-jährig an Scharlach, Egon und seine Frau 28-jährig an Spanischer Grippe ein Jahr später. Also viel Liebe, viel Drama, viel Tod. So viel Leid und Glück müssen analysiert werden, also ist Dr. Sigmund Freud auch nicht weit und Schnitzler, ein ausgebildeter Psychologe legen die Tänzer auf die Couch und tanzen ihnen was vor.

Nach dem Ballett gehen wir ins Restaurant Weimar. Das ist wirklich ein Restaurant wo die Kellner Schnauzer tragen, sich mit Verliebtheit und Frühlingsgefühlen entschuldigen, falls sie was vergessen haben und das Essen absolut österreichisch und sehr gut ist. Auch keine Touristen, sondern ältere Opis, die sich laut über die politischen Geschehnisse unterhalten, als ob Österreich tatsächlich noch eine grosse Rolle in der Weltpolitik spielen würde.

Tag 4: Nachdem wir den tanzenden Sigmund Freud gesehen haben, wollen wir auch seine Praxis besuchen.

Das einzige Zimmer mit Originalmöbeln ist das Wartezimmer, die berühmte Coach steht in England, denn dorthin emigrierte Freud mit seiner Familie, nachdem die Nazisten die Psychoanalyse zu einer jüdischen Pseudowissenschaft erklärten und die Wohnung mehrere Male durchsuchten. Ansonsten gibt es viele Photos und vollgestopfter Souveniershop. Ich habe mir das Buch mit den Briefen zwischen Freud und Einstein über das Wesen der Kriege gekauft.

Als Franz-Josef seine Sisi fragte, was sie sich von ihm wünschte und bestimmt mit einer Antwort wie: „Ach Schatz, schenk mir doch eine Sommerresidenz“ rechnete, bekam er folgendes zu hören: „Schatz, ich wünsche mir eine moderne psychiatrische Anstalt für Frauen“. Ein Kaiser steht zu seinem Wort, also wurde auf einem von die Stadt umgebenden Hügeln die seinerzeit modernste psychiatrische Anstalt gebaut. Jede Anstalt braucht eine Kirche, also wurde auch die Kirche am Steinhof vom Otto Wagner gebaut. Und weil zu dieser Zeit der Jugendstil das Nonplusultra war, wurde die Kirche komplett in diesem Stil erbaut. Dem Kaiser hat es nicht gefallen, dem Erzherzog Franz Ferdinand noch weniger, aber für den Liebhaber des Jugendstils ist es die schönste moderne Kirche.


Wenn man sich genau unter den Lüster stellt, sieht man einen perfekten Stern

Es ist recht kalt, also fahren wir ins Amalienbad, um sich dort aufzuwärmen. Amalienbad ist im Art-Deco-Stil gebaut, kann sich mit den Prachtbädern in Budapest nicht messen, aber es hat noch diese alte Umziehkabinen, die man mit Kleidern abschliessen kann und schönen Saunabereich.

Wir begehen einen strategischen Fehler. Meine Freundin schwärmt mir von dem Eispalais Tichy was vor, mit dem besten Eis der Welt, aber ich möchte erst was ordentliches essen, und das Eis erst als Nachtisch. FEHLER!

Beim Tichy ist das Eis die Vorspeise, der Hauptgang und der Nachtisch. Man möchte sich durch die ganze Karte durchessen, es gibt Eismarienknödel, Himbeer-Eisknödel, Rotweineis aus Chateau Neuf Du Pape und Beaujolais, es gibt Eistorten, geeiste Orange und vieles, vieles mehr. Und man kann mir sonst was von handgemachtem italienischen Eis in der Türkenstrasse erzählen, Tichy-Eis ist das beste Eis der Welt, es gibt da genauso keine Diskussion, wie beim Tannenzäpfle.

Tag 5: Es gibt Städte, die mit einem Buch untrennbar verbunden sind. „Ulysses“ und Dublin, „Berlin Alexanderplatz“ und Berlin, „Die Buddenbrooks“ und Lübeck. Für Wien heisst der entsprechende Roman „Die Strudlhofstiege“ und er wurde von Heimito von Doderer geschrieben. Es spielt im 9.Bezirk und dreht sich hauptsächlich um den etwas dusseligen Amtsrat Melzer, der von einer Vielzahl von Personen umkreist wird, unter anderem vom gar nicht so dusseligem René von Stangeler, dem Alter Ego von Doderer, der bei Frauen nichts anbrennen lässt. Nachdem ich von meiner Freundin vor die Wahl gestellt wurde, dass sie nur denjenigen heiratet, der dieses Buch durchgelesen hat (verstehe einer die Frauen), habe ich mir die Hörbuchversion angehört (die natürlich die wichtigsten Stellen weggelassen hat, deswegen wird doch noch nicht geheiratet). Und natürlich gingen wir ins Doderer-Museum, das im Stadtbezirkmuseum sich befindet und gingen auch zu der Strudlhofstiege, wo wir uns wie die Tochter des Oberbaurats Ingrid Schmeller und der Legationsrat Semski verhielten, bevor der alte Schmeller sie entdeckte.

Danach spazierten wir zum Augarten, wo Mary K. mit ihrem Gatten Oskar (der Zecke, wie der rumänische Arzt Dr. Negria ihn nannte), gegen den Legationsrat Semski Tennis gespielt und verloren hat. Nach so einem Spaziergang bekommt man Hunger, also wieder zum Restaurant Weimar, der komischerweise von Doderer nicht erwähnt wurde, obwohl es ihn zu seiner Zeit schon gegeben haben muss, um dort einen Wiener Schnitzel zu essen und einen kleinen Braunen zu trinken.


Fernwärmegebäude in Wien, von Friedrich Hundertwasser gestaltet

Dann wurde es Zeit wieder Abschied von Wien zu nehmen. Aber wir kommen wieder, keine Frage.